(Eile und Ungeduld)
Leo war in den letzten Tagen oft traurig.
Im Dojo sah er, wie die älteren Schüler ihre Bewegungen schnell und stark machten. Sie wirkten sicher, während er manchmal stolperte oder vergaß, was als Nächstes kam. Sofort dachte Leo: „Ich möchte auch so schnell wie möglich alles können.”
Auch in der Schule fühlte er sich manchmal so. Seine Freundin Lara konnte die Rechenaufgaben schon, während er noch immer über denselben Zahlen saß. Dann dachte er sich “Ich möchte am liebsten jetzt schon alle Rechenaufgaben lösen können.”
Sogar beim Spielen mit seinem Hund war er ungeduldig, wenn dieser das Stöckchen nicht gleich zurückbrachte. Immer wollte Leo sofort der Beste sein – am liebsten schon heute. Doch je mehr er daran dachte, desto schwerer wurde sein Herz.
„Egal, was dich bedrückt – Mit jedem Problem kannst du zu mir kommen. Ich bin immer für dich da!” Diese Worte von Meister Tanaka hörte Leo nun in seinem Inneren.
Also ging er ins Dojo. Der Meister sah ihn an, hörte ihm zu und nickte leise.
„Weißt du, Leo”, beginnt Meister Tanaka sanft und blickt in die Ferne, „ich erinnere mich an eine Geschichte, die mein Meister mir erzählte, als ich so alt war wie du, und die dir vielleicht helfen kann. Schließe bitte mal die Augen und höre mit deinem Herzen zu.”
Vor langer Zeit, als die Tage noch langsamer vergingen und niemand es so eilig hatte wie heutzutage, stand ein Schüler mit seinem Meister vor einem großen Berg.
Oben bei der Bergspitze konnte man die Wolken sehen. „Meister”, sagte der Schüler ungeduldig, „ich will sofort auf den Gipfel! Bitte zeig mir den schnellsten Weg.”
Der Meister schüttelte den Kopf und sprach: „Es gibt keinen schnellen Weg. Jeder einzelne Schritt ist wichtig.”
Sie begannen zu gehen.
Der Schüler jedoch wollte möglichst schnell sein und rannte sofort los. Er stolperte aber schon nach wenigen Schritten und fiel hin.
Da merkte er, dass Eile und Hast nicht half. Er ging langsamer weiter.
Und nach und nach erlebte er den Weg ganz anders: Auf dem Weg sah er bunte Blumen, hörte die Vögel singen und spürte den frischen Wind im Gesicht. Er trank aus einem klaren Bach und lachte, als ein Reh über den Pfad sprang.
Viele Stunden später erreichten sie den Gipfel. Der Schüler blickte zurück. Er war stolz, oben (am Ziel) angekommen zu sein. Doch noch mehr freute er sich über all das Schöne, das er unterwegs (auf dem Weg) erlebt hatte.
„Meister”, fragte Leo, „aber was ist, wenn ich trotzdem immer gewinnen will? Wenn ich der Beste sein möchte? Wenn ich möglichst schnell ans Ziel kommen will?”
Der Meister antwortete: „Es ist gut, stark zu werden. Aber wenn du nur an den Gipfel und an dein Ziel denkst, übersiehst du all die Schätze am Weg. Stärke wächst nicht nur aus dem Ziel, sondern aus jedem Schritt.”
„Und wenn ich es nicht so schnell kann wie die anderen?”
„Dann lernst du Geduld. Jeder Mensch hat seinen eigenen Berg. Und jeder wählt auch seinen eigenen Weg zum Gipfel. Manche gehen schnell, manche langsam. Wichtig ist nur, dass du gehst.”
„Aber… wenn ich manchmal müde bin und aufgeben will?”
„Dann ruh dich aus, atme – und später gehst du wieder weiter. Auch Pausen sind sehr wichtig auf dem Weg.”
Leo spürte, wie in ihm Ruhe einkehrte. Der Berg in der Geschichte war wie ein stilles Geheimnis in seinem Herzen geworden.
In der Küche stellt Leo den Katzen das Futter hin. Yang rennt los und schlingt das Futter schnell hinunter.
Yin geht langsam zur Futterschüssel – Schritt für Schritt. Sie setzt sich hin und schnuppert. Dann wartet sie einen Moment und beginnt langsam zu fressen. Man sieht richtig, wie sie jeden einzelnen Bissen genießt.
Leo beobachtet sie. „Yin hetzt nie”, denkt er. „Und sie wird trotzdem immer satt.”
Sensei erschnüffelt das Wichtigste
- Der Berg zeigt: Es geht nicht nur darum, ganz oben zu sein. Wichtig ist, wie man den Weg geht.
- Jeder Schritt bringt dich weiter. Auch wenn du langsam bist, bist du noch immer unterwegs.
- Pausen sind wichtig.
- So lernst du, Geduld zu haben und dich zu freuen, welche Schätze du auf dem Weg entdeckst.
Wenn wir Erwachsene hinsehen…
Die Geschichte vom Berg verweist auf ein zentrales Prinzip in allen Kampfkünsten: Der Weg selbst ist die eigentliche Schule. Es geht um den Prozess selbst und nicht nur um das Ergebnis. Kinder (und Erwachsene) neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit stark auf Ergebnisse, Anerkennung oder den Vergleich mit anderen zu richten. Dies führt zu Druck, Unzufriedenheit und Entmutigung. Die Parabel erinnert daran, dass Entwicklung immer prozesshaft ist. Jeder Schritt, jede kleine Übung, jede Pause und jeder Rückschritt sind Teil des Lernens. Für Pädagogik und Elternschaft bedeutet dies: Kinder brauchen die Erfahrung, dass ihr Wert nicht an messbare Ergebnisse gebunden ist, sondern an das Gehen ihres eigenen Weges. So wird Selbstvertrauen, Gelassenheit und innere Stärke gefördert. Denn: “Der Weg ist das Ziel”.
Meister Tanaka fragt dich
- Warum war Leo am Anfang so unzufrieden?
- Was wollte der Schüler in der Berg-Geschichte unbedingt erreichen und was geschah, als er rannte?
- Welche Dinge hat der Schüler auf dem Weg entdeckt?
- Warum sagt der Meister, dass es keinen schnellen Weg gibt?
- Kennst du Situationen, in denen du ungeduldig bist, weil du schnell etwas können willst?
- Wie kannst du dich selbst daran erinnern, dass auch Pausen wichtig sind?
- Was bedeutet für dich: „Jeder Schritt zum Ziel ist genau so wichtig wie das Ziel”?
