(Introvertiertheit)
Es ist Dienstagabend. Nach der Schule haben Leo und Mia sich schnell umgezogen, ihre Taschen geschnappt und sind gemeinsam ins Dojo gelaufen.
Schon auf dem Weg hat Leo gescherzt: „Heute zeig ich dir, wie stark ich bin!” Mia verdreht die Augen. Musste er immer so angeben? Und innerlich spürt sie ein kleines Stechen.
Im Dojo begrüßen sie die anderen Kinder, strecken sich und beginnen mit Aufwärmübungen. Die Kinder üben konzentriert, die Stimmen hallen durch den Raum. Leo ist heute besonders laut und unübersehbar. Sein Kampfruf donnert, seine Schritte sind fest wie kleine Erdbeben. Die anderen Kinder sehen ihn bewundernd an. Man hört hie und da ein „Wow”. Leo grinst stolz.
Mia bewegt sich schnell, leicht und geschmeidig, fast wie eine Katze, die über Dächer springt. Ihre Füße setzen weich auf. Ihre Schritte sind jedoch leise. Niemand dreht sich zu ihr um, niemand bemerkt, wie gut sie ist. Im Echo von Leos Kraft fühlt sich ihre Stille plötzlich unsichtbar an. Beim Üben mit Partner weicht sie genau im richtigen Moment aus, landet weich, steht wieder ruhig – niemand bemerkt es. Ein kleiner Knoten macht ihren Hals eng. „Immer nur Leo. Immer nur laut und stark. Aber was ist mit mir? Vielleicht bin ich einfach zu leise.”, denkt sie. Als Leo ihr aufmunternd zunickt, schaut sie weg.
Als das Training vorbei ist, bleibt Mia im Dojo sitzen. Die anderen lachen, reden, ziehen sich um – nur sie bleibt still auf der Matte sitzen. Irgendwie fühlt sie sich kleiner als zuvor. Und leise. Zu leise, als würde niemand sie hören.
In diesem Moment erinnert sie sich an die Worte ihres Meisters: „Egal, was dich bedrückt – Mit jeder Frage und jedem Problem darfst du zu mir kommen. Ich bin immer für dich da!”
Als hätte er Mias Gedanken gehört, kommt Meister Tanaka leise zu ihr, setzt sich neben sie und schweigt erst einmal. Dann fragt er sanft: „Magst du mir erzählen, was in dir los ist?”
Mia nickt. „Alle hören Leo. Mich hört keiner. Muss ich denn immer laut rumbrüllen, damit ich auch gesehen werde? Leo ist laut und stark. Und ich bin nur … leise…”
„Weißt du, Mia”, beginnt Meister Tanaka sanft und blickt in die Ferne, „ich erinnere mich an eine Geschichte, die mein Meister mir erzählte, als ich so alt war wie du, und die dir vielleicht helfen kann. Bitte schließe mal die Augen und höre mit deinem Herzen zu.”
„Vor langer Zeit, als die Tage noch langsamer vergingen und niemand es so eilig hatte wie heute, gab es in einem Dorf zwei Instrumente: eine Trommel und eine Flöte.
Die Trommel liebte es, laut zu schlagen. Ihr Rhythmus war so mächtig, dass man ihn bis in die Berge hören konnte. Wenn die Trommel erklang, liefen alle Menschen zusammen. ‚Seht ihr?’ rief sie stolz. ‚Ohne mich würde niemand wissen, dass das Fest beginnt!’
Die Flöte aber war leise. Ihr Ton war fein, wie ein Windhauch über Blumen. Viele hörten sie nicht einmal. Manchmal seufzte die Flöte: ‚Bin ich überhaupt wichtig? Die Trommel übertönt mich doch immer.’
Doch dann geschah etwas. Eines Tages kam ein Fest, und die Trommel schlug so laut, dass die Kinder zwar rannten, lachten und rempelten, aber niemand wusste, wie sie tanzen sollten. Ihre Schritte waren wild, unruhig, sie stolperten wild durcheinander.
Da begann die Flöte zu spielen. Zuerst hörten es nur wenige. Dann blieb einer stehen, dann noch einer – und plötzlich bewegten sich alle im gleichen Rhythmus. Die Menschen begannen zu tanzen, nicht wild, sondern zusammen. Gemeinsam. Miteinander.
Die Trommel schwieg und hörte zu. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass ihre Stärke allein nicht genügte. Sie brauchte die Flöte. Und die Flöte verstand: Ohne die Trommel wäre niemand gekommen, um zu tanzen.
Und es zeigte sich: Ohne die Trommel wüssten die Menschen nicht, wann das Fest beginnt. Ohne die Flöte wüssten sie nicht, wie sie tanzen sollen.
So brauchten beide einander – die Kraft der Trommel und die Sanftheit der Flöte. Und erst zusammen wird es ein Fest.
Mia sieht zum Meister. „Und… wenn alle nur die Trommel hören wollen?”
„Dann wartet die Flöte”, sagt der Meister, „und findet ihren Moment. „Wer genau hinhört, spürt, dass die Trommel nur laut ist, aber die Flöte den Tanz lenkt. Stärke ist nicht immer laut. Oft ist gerade leise dasjenige, was das Herz berührt.”
Sensei, der Hund, hat sich neben Mia gelegt. Er bellt nie. Er ist immer leise. Trotzdem hört jeder auf ihn – sogar die lautesten Kinder. Wenn er nur da ist, wird alles ruhig, fast wie von selbst. Man merkt, dass er stark ist, auch ohne ein Wort. Sensei hebt kurz den Kopf, blinzelt langsam – als wolle er Mia sagen, dass sie das auch kann: Stark sein, ohne laut zu sein.
Mia lächelt. Zuerst ein bisschen. Dann mehr. Sie fühlt: Auch die Leisen haben eine Stimme. Ihre Stimme ist nicht kleiner. Sie ist einfach anders – und genauso wichtig.
Als Mia wieder aufsteht, wirkt der Raum weiter und heller, wie nach dem ersten Ton einer Flöte.
Später zu Hause streichelt Mia ihre beiden Katzen Yin und Yang, die sich auf dem Sofa zusammengerollt haben. Yang schnurrt sehr laut, Yin ganz leise – doch zusammen klingt es wie Musik. Mia lächelt. „Trommel und Flöte”, flüstert sie, „beide gehören dazu.”
Sensei erschnüffelt das Wichtigste
- Manche Menschen sind wie eine Trommel – laut, mutig und stark.
- Andere sind wie eine Flöte – leise, ruhig und klar. Beides ist wichtig. Ohne die Trommel gäbe es kein Fest, ohne die Flöte keinen Tanz.
- Wenn du leise bist, heißt das nicht, dass du weniger kannst. Deine Stimme ist nur anders – sie erreicht die Herzen auf eine stille Weise. Und wenn du laut bist, denk daran, dass es manchmal schön ist, auch leise zu hören. So entsteht das beste Zusammenspiel: Trommel und Flöte, laut und leise – gemeinsam stark.
- In Asien gibt es das Yin-Yang-Zeichen. Es ist ein Kreis – halb dunkel, halb hell, in jeder Hälfte ein kleiner Punkt der anderen Farbe. Es bedeutet: Gegensätze gehören zusammen – leise & laut, Ruhe & Bewegung – zusammen sind sie ganz.
Wenn wir Erwachsene hinsehen…
Kinder vergleichen sich ständig – besonders, wenn eines im Mittelpunkt steht und das andere eher im Hintergrund bleibt.
„Laute” Stärken wie Kraft, Mut oder Ausstrahlung fallen schneller auf; „leise” Stärken wie Achtsamkeit, Taktgefühl oder Balance bleiben oft unbemerkt. Doch genau diese stillen Fähigkeiten sind es, die im Miteinander Sicherheit und Harmonie schaffen.
Die Parabel von Trommel und Flöte erinnert uns an zwei Dinge: Jedes Kind hat seinen eigenen Klang und Stärke hat viele Gesichter.
Unsere Aufgabe als Eltern, Pädagoginnen oder Trainerinnen ist es, beide Seiten hörbar zu machen – die kraftvolle Trommel und die feine Flöte. Wir können Kindern zeigen, dass Stille kein Mangel, sondern eine Stärke ist: durch bewusstes Wahrnehmen, ehrliche Rückmeldung und kleine Momente echter Aufmerksamkeit. Für schüchterne Kinder ist es besonders entlastend zu hören: „Deine leise Stärke zählt – und wir machen sie gemeinsam sichtbar.”
Gerade diese Kinder lernen im Dojo, dass Zurückhaltung, Ruhe und Achtsamkeit genauso wertvoll sind wie Kraft oder Lautstärke.
Kampfkunst bietet dafür einen einzigartigen Raum, in dem beides gelebt werden darf – Kraft und Feinfühligkeit, Laut und Leise, Trommel und Flöte.
Wenn wir Kinder darin bestärken, ihren eigenen Rhythmus zu finden, erfahren sie: Selbstbewusstsein entsteht nicht nur durch Lautsein, sondern durch das Vertrauen in die eigene, unverwechselbare Art.
Meister Tanaka fragt dich
- Wann hast du dich schon einmal wie die Trommel gefühlt – stark, laut oder mutig?
- Und wann warst du eher wie die Flöte – ruhig, vorsichtig oder klar?
- Wie fühlst du dich, wenn andere mehr gelobt werden als du?
- Gibt es etwas, das du richtig gut kannst, auch wenn es kaum jemand merkt?
- Kennst du jemanden, der leise ist – und trotzdem wichtig für alle?
- Wie könntest du heute zeigen, dass leise auch stark sein kann?
- Und was wäre, wenn Trommel und Flöte Freunde wären – was könnten sie voneinander lernen?
