Familienpuzzle mit einem Elefanten

die vielen Stimmen der Wahrheit (unterschiedliche Blickwinkel)

Mia und Leo basteln am Küchentisch an einem großen Plakat für die Schule. Gerade streiten die beiden, wann das Referat stattfinden soll. Jeder hat eine andere Erinnerung. „Das Referat ist diesen Freitag!”, sagt Mia. „Nein, nächsten Donnerstag!”, meint Leo. Jonas, ein Schulfreund, schüttelte nur den Kopf: „Ihr hört beide nicht zu – die Lehrerin hat Mittwoch gesagt!” Alle sind sich sicher Recht zu haben und doch kann nur einer Recht haben.

Mia merkt, wie verwirrend es ist, wenn alle mit fester Stimme etwas anderes behaupten. Auch zu Hause ist es nicht leichter: Am Abend sitzt die ganze Familie im Wohnzimmer. Auf dem Teppich liegt ein riesiges Puzzle mit tausend Teilen: ein Dschungel, Tiere, viele Grüntöne. Mama setzt ein Eckteil, Papa sucht den Rand.

„Weißt du noch, als wir vor Jahren am See waren und Papa ins Wasser gefallen ist?”, lacht Leo.

„Moment,” sagt Mama, „Papa ist nicht gefallen. Du, Leo bist ausgerutscht und Papa hat dich gehalten. Dann seid ihr beide ins Wasser gefallen.”

„Wirklich, ich auch?” Leo staunt.

„Ich erinnere es anders,” meint Papa. „Der Steg war nass, ich bin ausgerutscht und ins Wasser gefallen, und ihr alle habt gelacht.”

Mia runzelt die Stirn: „Ich erinnere mich nur noch an die rote Luftmatratze. Aber da seid ihr doch absichtlich draufgesprungen, da ist doch niiemand ins Wasser gefallen, oder?”

Alle haben eine klare Erinnerung – und doch passen sie nicht zusammen.

Sensei, der Hund, hebt den Kopf, schnuppert, schiebt mit der Nase zwei Puzzleteile zusammen und legt sich wieder hin.

Mia spürt, wie es in ihr arbeitet: In der Klasse reden alle verschieden. Zu Hause auch. Wie findet man heraus, was stimmt?

Sie erinnert sich an die Worte von Meister Tanaka: „Egal, was dich bedrückt – Mit jedem Problem kannst du zu mir kommen. Ich bin immer für dich da!”

Im Dojo stupst Sensei ihre Hand, und sie spürt: Jetzt ist der Moment, den Meister zu fragen. Sie geht zu ihm und sagt nachdenklich: „Ich verstehe nicht, wie so viele Menschen so sicher etwas behaupten können – und doch etwas anderes sagen.”

„Weißt du, Mia”, beginnt Meister Tanaka sanft und blickt in die Ferne, „ich erinnere mich an eine Geschichte, die mein Meister mir erzählte, als ich so alt war wie du, und die dir vielleicht helfen kann. Schließe bitte mal die Augen und höre mit deinem Herzen zu.”


Vor langer Zeit, als die Tage noch langsamer vergingen und die Welt viel leiser war, kamen sechs blinde Wanderer in ein Dorf.

Auf dem Marktplatz hatte ein Händler ein großes Tier aus fernen Ländern gebracht – es war ein großer grauer Elefant. Die Menschen murmelten durcheinander – die sechs Blinden hatten noch nie einen Elefanten gesehen und wussten nicht, was ein Elefant ist. Jeder durfte das Tier berühren, um zu sagen, was ein Elefant ist.

Der Erste tastete den runden Bauch: ‚Ein Elefant ist wie eine Wand!’

Der Zweite berührte den Stoßzahn: ‚Unsinn, er ist wie ein Speer!’

Der Dritte hielt den Rüssel: ‚Nein, er ist eine Schlange!’

Der Vierte griff ans Bein: ‚Ein Baumstamm!’

Der Fünfte fächerte mit dem Ohr: ‚Ein großer Fächer!’

Der Sechste fühlte den Schwanz: ‚Ihr irrt euch alle, er ist ein Seil!’

Sie fingen an zu streiten. Da trat der Älteste des Dorfes vor – ein Mann mit einem weißen Bart und einem langen Holzstab, auf den er sich stützte. Er sagte freundlich: ‚Ihr habt alle recht – aber nur ein Stück davon. Jeder spürt einen Teil. Wenn ihr eure Eindrücke teilt, wächst ein Bild, das keiner allein erkennen kann.’

Die Männer hörten auf zu streiten und legten ihre „Teile” nebeneinander. Sie lachten, als sie merkten: Ein Elefant ist mehr als Wand, Speer, Schlange, Baumstamm, Fächer und Seil.

Seitdem sagten die Leute in dieser Stadt: „Was du für wahr hältst, hängt oft von deinem Blickwinkel ab – also davon, wo du stehst und was du berührst oder siehst.”


Mia denkt lange nach: „Also hatte jeder ein bisschen recht?”

„Ja”, sagt der Meister, „aber keiner sah das Ganze.”

„Heißt das, es gibt keine ganze Wahrheit?”

„Es gibt sie – doch wir begegnen ihr schrittweise. Wie ein Puzzle, das aus vielen Puzzlestücken besteht.”

„Und wenn ich mir sicher bin und jemand anderes auch nicht?”

Tanaka lächelt: „Dann hört ihr zu und erklärt, welchen Teil ihr meint. Vielleicht habt ihr beide ein Stück vom Elefanten. Vielleicht seht ihr beide ein Stück der Wahrheit. “

Sensei gähnt und legt den Kopf auf Mias Fuß. Mia muss lachen. Der Meister nickt langsam.


Zu Hause wartet das Dschungel-Puzzle. Mama, Papa und Leo sitzen schon wieder am Teppich.

Mia hockt sich dazu: „Vielleicht erinnern wir uns alle an verschiedene Teile vom Seetag. Ich an die pinke Matte. Leo an das Lachen. Mama an den nassen Steg. Papa an den Rutsch.”

Sie erzählen nacheinander – ohne zu streiten. Wie Puzzleteile legen sie ihre Erinnerungen zusammen. Am Ende ergibt die Geschichte Sinn: Der Steg war nass, Leo rutschte aus, Papa fing ihn, alle lachten – und am Ende sind alle auf die rote Luftmatratze gesprungen.

Papa setzt das letzte Puzzleteil ein. Alle schauen auf das fertige Bild.

Mia flüstert: „Wenn wir unsere Teile miteinander teilen, sehen wir mehr.”

Der Abend ist still. Mia fühlt Frieden in ihrem Körper. Sensei stupst zufrieden gegen Mias Hand. Sie versteht: Am besten findet man die Wahrheit gemeinsam.


👉 SENSEI ERSCHNÜFFELT DAS WICHTIGSTE

  • Manchmal sieht jeder Mensch nur einen kleinen Teil von etwas Größerem.
  • Wenn ihr ein Puzzle baut, erkennt keiner allein das ganze Bild. Erst wenn ihr eure Teile nebeneinander legt, seht ihr, was es wirklich ist.
  • So ist es auch bei Meinungen: Wenn du etwas anders siehst als Leo oder deine Eltern, heißt das nicht, dass jemand lügt. Vielleicht seht ihr nur verschiedene Teile.
  • Wenn du ruhig bleibst, zuhörst und fragst: „Was meinst du genau?”, setzt du die Stücke zusammen – und kommst der Wahrheit näher.